Ist es Zufall, dass der 6. Tag der Archive (Motto „Feuer, Wasser, Krieg“) exakt am 3. Jahrestag des Einsturzes des Kölner Stadtarchives stattfand? Wer weiß! Aber es war ein guter Anlass, die Türen des RDZ (Restaurierungs- und Digitalisierungszentrum des Stadtarchivs) für die Bürger zu öffnen. Wir haben diese Gelegenheit genutzt und die Ausstellung erkundet, der Bürgermeisterin zugehört, andächtig geschwiegen sowie mit der Band Erdmöbel zusammen die Wut von der Seele gesungen. Ein paar kurze Stunden nur, die uns eine Zeitreise mit nachdenklichem Erinnern bescherten.
Das RDZ hat seine provisorische Heimat in zwei großen Hallen des Möbelzentrums Porta gefunden. Hier sowie im Möbelhaus selber stellen sich am 03.03.2012 20 der 40 Kölner Archive den ca. 1200 Besuchern vor, präsentieren jeweils eine kleine Auswahl an historischen Bildern, Dokumenten etc. Archivare und Archivarinnen stehen mit großer Begeisterung Rede und Antwort zu ihren Aufgaben. Um die Vielfalt der Themengebiete aufzuzeigen, liste ich stellvertretend mal ein paar der Archive auf:
- NS-Dokumentationszentrum
- Centrum schwuler Geschichte
- Verband Deutscher Verkehrs Amateure
- Deutsches Golf Archiv
- Kölner Frauengeschichtsverein …
Weiter geht es durch einen schmalen Gang in eine große Halle. Hier nimmt uns die jüngere Vergangenheit dokumentierter Kölner Geschichte gefangen. In einem großen Gerät werden die beim Einsturz des Stadtarchivs vor genau drei Jahren verschütteten Dokumente gefriergetrocknet.
Das ist nur einer der ersten langwierigen Schritte auf einem langen Weg zur Rekonstruktion des „verlorenen Gedächtnisses“ des Stadtarchivs.
30 (in Worten: dreißig) Regalkilometer Archivgut wurden am 03.03.2009, 13:58 Uhr, unter Schutt begraben. Das schlechte Wetter und jede Menge Zement taten wohl ein Übriges. Trotzdem konnten 95 % des Materials geborgen werden, 50 % davon nur leicht beschädigt,
35 % mit schwersten Schäden.
Die Restauration, Dokumentation und Digitalisierung wird voraussichtlich noch 30 bis 50 Jahre dauern.
Während wir den Restauratoren über die Schulter und auf die Finger schauen, ihren Ausführungen zuhören und immer mehr Regale mit Archivgut in verschiedenen Erhaltungszuständen entdecken, kriechen langsam Erinnerungen in uns hoch.
Es war zuerst so unwirklich, als die Medien berichteten, dass im nahen Köln aus dem Nix heraus innerhalb weniger Minuten das Stadtarchiv und angrenzende Wohnungen in einem großen Krater verschwunden waren. Dann war da dieses unerträglich lange Warten zwischen Hoffen und Bangen und letztlich trauriger Gewissheit, dass zwei Menschen bei diesem Unglück ihr Leben verloren hatten. Man fühlte mit ihren Angehörigen und Freunden sowie mit den Menschen, die ihre Wohnung („Heimat“), ihr Hab und Gut und damit Erinnerungen an ihr früheres Leben verloren haben. Als immer deutlicher wurde, dass keine Naturgewalt sondern unverantwortliches Handeln für dieses Geschehen verantwortlich war, kam blanke Wut hinzu.
Damals empfand ich die Rettung der Archivalien neben all dem unerträglichen menschlichen Leid als relativ unwichtig – erst beim Anblick der „Fragmente“ wird mir die Tragweite auch dieses Schadens richtig bewusst. Die Stadt hat auf lange Zeit einen Teil seines Gedächtnisses verloren.
Drei Jahre sind vergangen, die Welt dreht sich weiter. Trauer und Wut zuzulassen, nichts zu vergessen, aber den Blick hoffnungsvoll nach vorne zu richten – so ist denn vielleicht das Motto dieser Kölner Ausstellung „Mitten im Leben“ und die Botschaft der Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes zu verstehen. Die Restaurierungsarbeiten kommen voran, der Neubau des Stadtarchivs ist beschlossene Sache. Mit einer Minute schweigendem Andenken an die Toten beendet Frau Scho-Antwerpes ihre Ansprache.
Die Band Erdmöbel ist der Einladung der Stadt gefolgt, ihren zornigen Köln-Song „Fremdes“ – der unter dem Eindruck des Stadtarchiveinsturzes geschrieben worden war – zu spielen. Es ist ein außergewöhnliches Konzert an einem seltsamen Ort. Erdmöbel treten mit Minimalstausstattung unplugged auf und schaffen es so, die große nachhaltige Wut dem Anlass entsprechend angemessen leise und nachdenklich würdig auf die Bühne zu bringen … eine ganze Stunde lang.
Setlist:
- Fremdes
- Wort ist das falsche Wort
- Dawai Dawai
- Arbeiten
- Snoopy T-Shirt
- Anfangs Schwester heißt Ende
- Lied über gar nichts
- Wurzelseliger
- In den Schuhe von Audrey Hepburn
- Die Devise der Sterne
- Busfahrt
Die Band (von links nach rechts):
Wolfgang Proppe – Keyboard, Markus Berges – Gesang + Gitarre, Ekki Maas – Bass, Christian Wübben – Schlagzeug, Henning Beckmann Posaune
Wir verlassen die Auststellung … sehr nachdenklich … Danke an alle, die diesen Tag möglich gemacht haben.
Linktipps:
Fotogalerie:
Mit freundlicher Genehmigung von Stefan und LiSi
Ich danke Dir für Deine Ausführungen, denn ehrlich gesagt, war ich zwar sehr bestürzt über den Einsturz des Archivs und den Verlust so alter und unwiderbringlicher Dokumente, habe mir aber bis dato keine Gedanken über den unglaublichen Aufwand der Rekonstruktion gemacht. Das ist sehr, sehr beeindruckend.
Liebe Grüße,
Elvira
Wir haben von unserem Ausflug ins RDZ innerfamiliär reichlich Gesprächsstoff mit nach Hause genommen. Es war wirklich sehr beeindruckend und aufwühlend zugleich.
Gut, dass du die Arbeit der Restauratoren zeigst. Das ist ja unglaublich, was aus diesem Klumpen wieder „gezaubert“ werden kann. Schade um das Archiv ist es. Es stimmt, was du schreibst: Die Stadt hat ein Stück seines Gedächtnisses verloren.
Liebe Grüße von der Gudrun
Das ist eine wahre Sisyphos-Aufgabe. Die Restauratoren brauchen auf jeden Fall großes Fingerspitzengefühl und viel Geduld für ihre Arbeit. Was wiederhergestellt werden kann und wie letztlich die Ergebnisse aussehen, wird die Zeit zeigen.
Aber dieser Tag der Archive hat uns nicht nur die Rekonstruktion der Dokumente näher gebracht, sondern auch neugierig auf die anderen Archive gemacht. Wir werden sicher das ein oder andere demnächst mal besuchen.
Lieben Gruß
Eva
[…] Zum Schluss dann noch zwei Links zu Konzertreviews aus dem Gloria und aus dem RDZ anlässlich des Tags der Archive. […]
[…] Rückblick: Vor zwei Jahren fand dieser Tag der Archive exakt am 3. Jahrestag des Einsturzes des Historischen Archivs der Stadt Köln statt. Wir hatten damals die Gelegenheit genutzt, den Restauratorinnen und Restauratoren RDZ bei Ihrer akribischen Arbeit zur Wiederherstellung der historischen Dokumente über die Schulter zu schauen – ich berichtete davon. […]
Gut, dass du noch mal auf diesen Beitrag hingewiesen hast, denn ich hatte ihn noch nicht gelesen. Du schilderst sehr eindringlich, wie ihr das alles empfunden habt. Ja, es war ein schlimmer Tag und das ganze Ausmaß wurde erst nach und nach sichtbar. Ein wenig tröstlich finde ich es, dass so vieles wieder hergestellt werden kann.
Liebe Grüße, Franka
Ja, das ist ein Trost. Ich hoffe nur noch, dass sich das Bewusstsein durch dieses Ereignis nachhaltig ändert und dass die Ursachen offen und ehrlich aufgearbeitet werden.
Lieben Gruß nach Köln
Eva